Kulturelle Transformation und Krankheit


Die demografische und kulturelle Entwicklung der Menschheit kann außer aus ihrer ausreichenden Versorgung mit Nahrung auch aus ihrer Anfälligkeit gegenüber Krankheiten abgeleitet werden.

Ein Modell der Abfolge der menschlichen Lebensweisen mit jeweils eigentümlichen Krankheitssyndromen wird von der medizinischen Anthropologie vorgeschlagen [McElroy/ Townsend 2004]:

Jäger und Sammler: chronische endemische Infektionskrankheiten ->
Bauerngesellschaften: akute Infektionskrankheiten ->
Vorindustriellen Stadtgesellschaften: epidemische Infektionskrankheiten ->
Industriegesellschaften: Degenerationskrankheiten vornehmlich als Alterskrankheiten, Risiken durch Umweltgifte und die Technologie selbst




Naturvölker


Ein merkwürdiges Phänomen ist, dass Naturvölker trotz ihrer überragenden physischen Konstitution nur die halbe Lebenserwartung der Bewohner der Industrieländer haben. Ihre Sterblichkeitsrate scheint hauptsächlich auf Infektionskrankheiten zurückzugehen, wobei wahrscheinlich Infektionen bei der Geburt den einschneidensten Effekt auf die Lebenserwartung haben.

Die geringe Größe der Populationen in Subsistenzgesellschaften bieten den Erregern von akuten Infektionskrankheiten an sich keinen ausreichenden Aktionsraum. Bestimmte Parasiten wurden angeblich mit anderen Primaten geteilt, die ja auch keine großen Populationen bilden [McElroy/ Townsend 2004].

In kleinen Populationen entwickelten sich Infektionskrankheiten mit weniger aggressivem, aber oft chronischem Verlauf wie Frambösie und Lepra [Diamond 1998].

Andererseits waren die Wildbeuter der Neuzeit dann Kontakten mit bevölkerungsreichen Gesellschaften ausgesetzt, die von epidemisch auftretenden Krankheiten befallen wurden.




Bauern


Pflanzenbau erforderte einen hohen Grad von Sesshaftigkeit und führte zur dichten Besiedlung geeigneter Gebiete. Das hatte Hygiene-Probleme und die Ausbreitung von Pathogenen und Parasiten zur Folge. Hinzu kommt noch die anstrengende Arbeit und die Gefahr von Ernteausfällen und Hungerjahren. [Dilworth 1998]

All dies soll dazu geführt haben, dass die Neolithiker sich in einer schlechteren körperlichen Verfassung befanden und eine geringere Lebenserwartung hatten als die Mesolithiker.

Paläopathologische Daten aus vielen Weltgegenden weisen auf eine Zunahme von Infektionskrankheiten und periodischen Nahrungsmangel nach dem Übergang zur Landwirtschaft hin. In bäuerlichen Kulturen wurden häufig die Haustiere zum Krankheitsüberträger, namentlich bei den verschiedenen Pockenarten und den wechselnden Grippe-Erregern. [McElroy/ Townsend 2004]

Sesshafte leben in ihren eigenen Abfällen und Ausscheidungen. Letztere werden teilweise als Dünger auf die Felder gebracht. [Diamond 1998]


Außer auf den dadurch entstehenden Hygieneproblemen und Krankheiten sollen die Nachteile des Pflanzenbaus auch auf einer ernährungsbedingten Transformation der Lebensbedingungen beruhen.

Feldbau schafft zwar Nahrung für mehr Menschen, scheint aber auch eine Verringerung der körperlichen Fitness im Vergleich zum nomadisierenden Jäger zu verusachen.
Eine bei den Bauernkulturen beobachtete Verringerung der Körpergröße wird auf ihre einseitige Pflanzenernährung zurückgeführt; die essentiellen Aminosäuren Lysin, Isoleucin, Tryptophan fänden sich vornehmlich in tierischer Kost [Naturwiss. Rundschau 1996].
Die Pflanzenkost der Bauern soll sogar zu Zahnverlusten geführt haben: Kohlenhydrat-Ernährung begünstige Karies und entzündliche Vorgänge im Mund; das Zermahlen von Getreide schleife den Zahnschmelz ab [Naturwiss. Rundschau 1996].

Diese Symptome könnten aber, statt auf einer Umstellung von reiner Eiweißkost auf Pflanzennahrung zu beruhen, eher auf eine allgemeine Verknappung der Nahrungsressourcen durch Übervölkerung hinweisen.

Aber auch unkomfortable Lebensbedingungen in kühleren Klimaten forderten ihren Preis: In der römischen Provinz Britannien waren Erkrankungen der Atemwege und Gelenkentzündungen häufig. Außerdem aber auch Augenleiden, die hier auf Vitaminmangel zurückgeführt werden. [Birley 1990]



Die abnehmende Lebensqualität mit zunehmender Sesshaftigkeit und Handelsabhängigkeit wurde sogar für die nordamerikanischen Indianer festgestellt anhand der Archäologie der 'Dickson Mounds' in Illinois. - Auch in der Maya-Zivilisation wurde die bäuerliche Klasse von Generation zu Generation kleinwüchsiger, was auf eine Verknappung der Ressourcen zurückgeführt wird. [McElroy/ Townsend 2004]


Einen Sonderweg nahm Amerika wegen des Fehlens von Haustieren [Diamond 1998].

Die Feldbestellung und Ernteverarbeitung musste von Hand erfolgen, bei den agrarischen Stoffflüssen fehlte der tierische Dung, aber es existierte auch eine Gesellschaft ohne die durch Haustiere verursachten Krankheiten.

Vielleicht war es die bei Eintreffen der Spanier erst seit kurzer Zeit einsetzende Bevölkerungsverdichtung, die die eigentliche Matrix für die Schwächung durch epidemische Krankheiten aus Eurasien bildete.




Zivilisation


Tatsächlich ist Krankheit auch ein Produkt aus degradierten Ökosystemen, Ausbeutung und Anonymität. Sie wird nur vielerorts auf einem so niedrigem Level gehalten, dass man mit ihr recht alt werden kann.


Fettleibigkeit entsteht seltener wegen übermäßigen Essens als infolge des geringen Energieverbrauchs der sogenannten zivilisierten Lebensweisen [Boyd Eaton 1999]. Der fehlende Energieverbrauch kann auf die totale Organisation der Versorgungsstrukturen, die totale Motorisierung der Fortbewegung und die künstliche Temperierung der Industrieländer zurückgeführt werden.


Entgegen den früher üblichen Beteuerungen von Werbung, Management und Propaganda ist die in Entstehung begriffene, Technologie-bedingte Lebenswelt im Vergleich zu früheren keineswegs hochwertiger und gesünder.
Sie scheint leichter zu kontrollieren zu sein - im Guten wie im Schlechten - mit Hilfe der Dominanz von staatlichen Institutionen und Großkonzernen.

Bei Betrachtung der Labilität der neuesten Konstrukte der Versorger und der durch sie unmittelbar oder kurz- und mittelfristig ausgelösten Risiken sehen sich aber viele Verbraucher in ihrer Sicherheit bedroht, nicht nur durch künstliche Nahrung und Lebensmittelbetrug.



In ihren Anfangsphasen stellte die zunehmenden Urbanisierung vor allem ein hygienetechnisches Probleme dar. Städte "rochen widerwärtig" [McNeill 2005].

Es erwies sich, dass sich schnell wachsende städtische Agglomerationen als ein tödlicher Morast herausstellen können: London hatte vom 17. bis 19. Jh. eine doppelt so hohe Sterbe- wie Geburtenrate [Waters 2007].

Und die Sterblichkeit war in London im 17. und 18. Jh. größer als auf dem Lande. Erst seit dem fortgeschrittenen 19. Jh. wurde die Lebenserwartung der Städter allgemein höher als die der Landbevölkerung. [McNeill 2005]


Ab einer bestimmten Bevölkerungsverdichtung ergibt sich die Notwendigkeit einer 'hygienischen Revolution' [McNeill 2005], die auf allen Ebenen der Technologie erfolgen sollte.

Die Einrichtung von Systemen und Infrastrukturen der Entsorgung, besonders von Abfällen, ist eine sehr neue und innovative Entwicklung. New York betrieb am Anfang des 20. Jh.s Müllboote, die sich ihrer Ladung einfach im offenen Meer entledigten.

Im Müll der indischen Stadt Surat brach noch im Jahr 1994 die Beulenpest aus, die Stadt schaffte es aber innerhalb von 3 Jahren, zur saubersten Stadt Indiens zu werden [McNeill 2005].



Viehzüchter waren zwar den mutierten Krankheitserregern der Haustiere zuerst ausgesetzt, entwickelten mit der Zeit aber auch Abwehrkräfte (im Gegensatz zu anderen Völkern) [Diamond 1998].

Die Landbevölkerung war nicht nur ziemlich resistent gegenüber den epidemischen Krankheiten, die von Haustieren abstammen, sondern auch gesünder auf Grund besserer Ernährung und hygienischerer Lebensbedingungen [Waters 2007].
Die Landbevölkerung hatte im Vergleich sowohl zu Stadtbewohnern als auch zu Bewohnern der Wildnis die höchsten Geburtenraten. Dadurch hat sie offensichtlich in vielen Gesellschaften auch die Funktion des Erzeugers von "Humankapital" angenommen. [Waters 2007]



Heutzutage jedoch machen die Versprechungen der Agrachemie das Stadtleben nur dadurch paradiesisch, dass ihre Produkte und Technologien das Land in eine Gifthölle verwandeln.

Es werden zwar die Gesundheitsgefahren einer urbanisierten Gesellschaft durch die mit Pestiziden kontaminierten Agrarprodukte thematisiert, kaum einmal aber auch die Risiken, die Landbewohner ausgesetzt sind infolge der Produktionsweisen im Agrarbereich.




Quellenangaben


Johanna Schopenhauer: Promenaden unter südlicher Sonne - die Reise durch Frankreich 1804; 2. verb. u. verm. Aufl.. Wien, 1825; Nachdruck, 1993.

Jean Herbert: Asien. 1959.

Anthony R. Birley: Britannien (in: Fr. Vittinghoff (Hg.): Europ. Wirts.- u. Sozialgeschichte in der römischen Kaiserzeit. Stuttgart, 1990.)

Nachteile des Ackerbaus (Naturwiss. Rundschau 1996, S.198)

Jared Diamond: Arm und Reich - Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt, 1998.

Craig Dilworth: The Vicious Circle Principle - A Contribution to the Theory of Population and Development (in: Dobkowski/ Wallimann (ed.s): The Coming Age of Scarcity - Preventing Mass Death and Genocide in the Twenty-first Century. Syracuse, 1998.)

S. Boyd Eaton: Hunter-Gatherers and Human Health (in: R. Lee/ R. Daly (Ed.s), The Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers, 1999.)

Rüdiger Wittig/ Bruno Streit: Ökologie. Stuttgart, 2004.

Ann McElroy/ Patricia Townsend (ed.s): Medical anthropology in ecological perspective; 4th ed.. Boulder, 2004.

John R. McNeill: Blue Planet - Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert. Bonn, 2005. (Originalausgabe "Something New Under the Sun", 2000.)

Tony Waters: The Persistence of Subsistence Agriculture. Lanham, 2007.

Verena Winiwarter/ Hans-Rudolf Bork: Geschichte unserer Umwelt - Sechzig Reisen durch die Zeit. Darmstadt, 2014.