Die Marktwirtschaft nach Polanyi


Nach Karl Polanyi (1944) ergibt sich folgende Abfolge der Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsform und Wirtschaftssystem.
Allerdings kann wohl keines dieser Wirtschaftssysteme für sich allein existieren, obwohl gerade das von den Dogmatikern der politischen Ökonomie ständig verlangt wird.

Zu beachten ist auch, dass erst die 4. Stufe die Marktwirtschaft darstellen soll, die erst nach Jahrtausenden kultureller Entwicklung entstanden sei, und außerdem, dass Polanyi dieses System der globalisierten Destruktivität ablehnte.


Polanyi arbeitete mit einem idealisierten Modell, das unbedingt durch die nicht so idealen Einflussfaktoren, die uns heute bewegen und die schon in manchen primitiven Gesellschaften auftreten [in eckigen Klammern], ergänzt werden muss.


1.
Symmetrische Lebensbedingungen und Intentionen
>>> Reziprozität am Beispiel einer Geschenkwirtschaft
[ < kriminelle Gewalt ]


2.
Zentralisierung der Gesellschaft mit Hilfe sogenannter Eliten
>>> Redistribution
[ < Kleptokratie ]


3.
Autarkie kleiner Gemeinschaften oder großer sozialer Verbände
>>> Haushaltung - beachte die Ideologie des Isolationismus!
[ < Armut und Verwahrlosung ]


4.
Individuelle Interaktion insbesondere auf den Weltmärkten mit Hilfe industrieller Produktion
>>> Angebot und Nachfrage
[ < vollständige ökonomische Abhängigkeit sowohl der Einzelperson als auch ganzer Populationen]




Entwicklung der Marktsysteme


Karl Polanyi wird als Marktkritiker auch in der ethnologischen Theorie verwendet [Haller 2005].


Anscheinend leisteten nur archaische Gesellschaftsformen mit egalitärer Redistribution Arbeit und Abgaben direkt zur Umsetzung von Gemeinschaftsprojekten.
Redistribution dient wahrscheinlich häufiger der Erhaltung der Haushalte von Eliten als der Erhaltung des Volkes.

Man sollte Polanyi auch um diejenigen Gesellschaften ergänzen, die aufgrund fehlender Ressourcen nicht zur Autarkie in der Lage sind und deshalb zu einem Fernhandel gezwungen sind. Dort hätte sich eine Marktwirtschaft schon viel früher entwickeln müssen, wenn auch ohne Industrieproduktion.


Polanyi sah in seiner Gesellschaft des frühen 20. Jh.s keine individuelle Vielfalt, sondern einen ebenso monolithischen wie passiven Block, der durch global agierende Anbieter, die den Markt beherrschen und sich über die Gesellschaft stellen, manipuliert wird.

Auch 70 Jahre später ist der Einzelmensch unangreifbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt, die seine Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit fast vollständig paralysieren.

Nur wenn Anbieter und Konsumenten gleichberechtigte Teilnehmer sowohl des 'Marktwesens' als auch der Gesellschaft sind, hätte der Markt - anders als von Polanyi dargestellt - eine reine Bewertungsfunktion, keine Akkumulations- und Herrschaftsfunktion.


Nun stellt sich die Frage, ob sich in den 70 Jahren seit Polanyis Buch vielleicht neue Gesellschaftsformen und Wirtschaftssysteme entwickelt haben?

Die Planwirtschaften des Ostblocks können prinzipiell zu den Wirtschaftsformen 2 und 3 gerechnet werden, während das westliche Modell des internationalen Großkapitalismus (Wirtschaftsform 4) tatsächlich eine Verschiebung erlebt hat von der Macht großer Industrieproduzenten auf die Macht international agierender Finanzsysteme und Banken, die kaum zu individueller Aktion fähig sind.

Die Globalisierung bezieht sich praktisch nur auf unkontrollierte Finanzströme [Haller 2005] und die von ihnen ausgeübte Kontrolle. Die eigentliche Produktivität und die Warenströme sind in der Realität von untergeordneter Bedeutung.

Allerdings haben die Staaten zweifellos die bei weitem höchsten Finanzumsätze, daher ist anzunehmen, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Finanzwirtschaft nehmen können.
Eigentlich bezog Polanyi eine internationale Finanzwirtschaft in seine Wirtschaftsform 4 der Marktwirtschaft mit ein, es ist die unauslösliche Verzahnung von Finanzwirtschaft und Staatsräson, die den Unterschied der neuen Gesellschaftsordnung macht.
Ein schwerwiegender Denkfehler ist sicher, die Finanzwirtschaft als geeignetes Mittel der Redistribution darstellen zu wollen.


5.
Definition der Staatshaushalte durch die Finanzwirtschaft
>>> Paralysierung der Gesellschaft
[ < Geldwirtschaft statt reeller Produktivität]



Ausblick


Industriegesellschaften können sich zu Risikogesellschaften entwickeln [Haller 2005], wenn sich deren äußerst komplexe überregionale funktionale Strukturen Zentralstaat, Produktionskette, Arbeitsplatz, Verfügbarkeit der Rohstoffe und Waren, Geldwirtschaft auflösen oder sich als nicht ausreichend integrativ erweisen.

Dadurch erlebt die Bevölkerung nach der industriellen Revolution eine weitere und vielleicht vollständige Entwurzelung.


Leider wird in rein ökonomischen Theorien der Einflussfaktor chauvinistischer politischer Interessen völlig ausgeklammert.

Auch die jetzige politische Entwicklung in gewissen Ländern zeigt, dass es dem politischen Interesse oft ganz gezielt um die Entwurzelung großer Bevölkerungsgruppen geht, keineswegs um gesellschaftliche Produktivität.


Wie von Polanyi vorausgesehen, zerstörte die Marktwirtschaft die Lebensgrundlagen der Menschheit. Wenige Generationen, die in den Jahrzehnten vor und nach 2000 lebten, werden praktisch alle Ressourcen, die für eine herkömmliche Produktion erforderlich waren, aufgebraucht haben.

Der ökologische Druck wird also in absehbarer Zeit den ökonomischen Druck deutlich übertreffen.

Beide unterscheiden sich in dem einen Punkt, dass ökologische Knappheit real ist, während ökonomische Knappheit durch Spekulation überbrückt werden konnte.



Quellenangaben


Karl Polanyi: The Great Transformation [1944]; Übersetzung von Heinrich Jelinek [1977]. 12. Aufl., Frankfurt/ M., 2015 (Taschenbuch). - 5. Kap. "Die Entwicklung des Marktwesens"

Dieter Haller: dtv-Atlas Ethnologie. München, 2005.