Von Zeit zu Zeit hört man allenthalben immer wieder sehr viel von der unglaublichen evolutionären Fortentwicklung des Menschen. Als besonders bewundernswert scheint dabei zu gelten, dass sie ohne einen Hauch von Coevolution erfolgte.
Die einzige Ausnahme mag eine Coevolution des Menschen mit seinen Hunderassen sein.
Analog zum angeblichen Befund bei Haustieren könnte man meinen, dass zivilisierte Menschen ein kleineres Gehirn und weniger scharfe Sinnesorgane hätten als wilde. Schlimmer noch - die extrem zivilisierten Menschen der Industriegesellschaften (also "Leute wie Du und ich") könnten gefährlichen Fehlfunktionen ihrer geistigen Entwicklung unterworfen sein, indem sie sich überschätzen und gleichzeitig unterfordern.
Andererseits stellt aber auch die kulturelle Technologie hohe kognitive Ansprüche, die vielleicht derartig hoch sind, dass sie uns letztlich ü b e r fordern.
Die Änderungen der Lebensbedingungen und der Ernährung, vor allem auch die Verlagerung der alltäglichen Ziele des Menschen auf nicht für das Überleben notwendige Dinge, haben sicher einen entscheidenden Einfluss auf seine Konstitution gehabt.
Diese 'conditio humana' darf zwar nicht als statisch angesehen werden, doch wird es zu einer immer drängenderen Frage, wie weit ihre Transformation - überwiegend im Sinne von Manipulation - gehen darf.
Veränderungen der menschlichen Konstitution erfolgen nicht allein durch die technische Infrastruktur, sondern auch durch die Art der Informationsvermittlung. Technisch-virtuelle Medien, die den gesamten Alltag bestimmen, existieren erst seit kürzester Zeit; Radio als das erste öffentliche Medium gibt es seit gut 100 Jahren.
Die früheren menschlichen Kulturen wurden durch eine bestimmte Umwelt und die besondere Art des Nahrungs- und Güterangebotes, die diese hervorbrachte, geprägt.
Die die Einheitszivilisation bestimmenden Umweltbedingungen sind artifizielle Siedlungsräume und Arbeitsstätten und eine denaturierte Nahrungsproduktion. Diese kulturtechnischen Bedingungen beruhen in ihren positiven wie negativen Auswirkungen auf einem überhöhten Verbrauch und daher recht labilen Angebot von nichtsolaren Fremdenergien.
Analog zu der biologischen würde auch eine kulturelle Evolution zu größerer Vielfalt führen, was praktisch auch mehrere Kulturen innerhalb einer Gesellschaft bedeuten könnte. Man hat beispielsweise seit jeher zwischen urbaner und ruraler Kultur unterschieden.
Als großer Vereinheitlicher hat hier die Verkehrstechnik gewirkt, die neuerdings auf dem Handel mit Erdöl als geografisch beschränkter fossiler Energiequelle beruht. Frühere Techniken waren nicht mehr als eine Fortführung der Anpassung an ganz spezifische Umweltbedingungen, heute werden Umweltbedingungen und Kulturen an diese Technologie fossiler Brennstoffe angepasst.
"Braucht die Natur die Industriegesellschaft?" [Jensen 2008] - Natürlich nicht.
Aber viele von uns, die doch zweifellos dem Reich der Naturerscheinungen angehören, brauchen die Industriegesellschaft. Daher können Industrie-Lobbyisten variieren: Brauchen wir die Industriegesellschaft nun, da sie die Natur zerstört hat, nicht noch viel dringender als vorher?
Darauf ist zu erwidern: Sinnesphysiologisch komplexe Lebensformen können in einer vielfältigen, durch die natürliche Evolution entstandenen Umwelt eher entstehen und überleben als in einer auf wenige Komponenten reduzierten Um- oder Unwelt ...
Eine analoge kulturelle Umwelt sollte die Möglichkeit zu Bewusstheit und Reflexion und zu freien Entscheidungen bieten. [Murray Bookchin: "Remaking Society", 1989 (in: Biehl 1997)]
Dieselben Faktoren, die diese Potentiale beschneiden, verursachen gleichermaßen soziale wie ökologische Probleme. Evolutionäre Vielfalt bietet hingegen sowohl ökologische als auch kulturelle Chancen.
Einen zwiespältigen Einfluss haben neben anderen Technologien auch die modernen Informationsmedien, die möglicherweise nicht zu kultureller Vielfalt, sondern vielmehr zur Vereinheitlichung der Kultur führen.
Quellenangaben
Janet Biehl (ed.): The Murray Bookchin Reader. London, 1997.
Derrick Jensen: Endgame - Zivilisation als Problem. München/ Zürich, 2008.