Evolution, Phylogenese, Verwandtschaft


Progressionen

Anhand der sinnreichen Morphologie pflanzlicher Organe kann der interessierte Betrachter Rückschlüsse auf deren Evolution und die Entwicklungsgeschichte der Pflanzenart ziehen.

Angesichts einer prächtigen Ravenala - übrigens zur Ordnung der Ingwerartigen (Zingiberales) gehörend - oder eines mächtigen Nussbaumes könnte der Betrachter sogar auf den Gedanken kommen, dass diese Organismen eine höhere Organisationsstufe und Fitness erreicht haben als der Mensch mit seinem Haushund.


Botanische Systematik ist zunächst nur Identifizierung, Benennung und Klassifizierung. Hieraus entwickelte sich das Konzept einer Klassifizierung auf Grundlage von Hypothesen zur Evolution.


August-Wilhelm Eichler (1835 - 1887) leitete aus dem Evolutionsgedanken die Hypothese ab, dass die einfacheren pflanzlichen Organe stets ein Zeichen für Ursprünglichkeit seien (Spichiger et al. 2004).
Nach seiner Schule wurden bereits die Palmfarne (Cycadales) als die ursprünglichsten Samenpflanzen angesehen.

Adolf Engler (1844 - 1930) hat diese Auffassungen in seiner Systematik weiterverfolgt. Die Pflanzenklassifikation nach Engler-Prantl beruhte in starkem Maße auf der Ableitung möglicher entwicklungsgeschichtlicher Veränderungen der Pflanzenorgane. Die pflanzensystematischen Beschreibungen des "Syllabus der Pflanzenfamilien" enthalten oft die Darstellung einer morphologischen Stufenfolge oder Progression (Melchior 1954).


Aber auch eine Regression von Pflanzenorganen in der Entwicklungsgeschichte ist möglich. Progressionen sind als Entwicklungstendenzen anzusehen; derselbe Mechanismus der Differenzierung durch Spezialisierung findet allerdings auch bei re(tro)gressiven Entwicklungsschritten statt.

Die ein übergeordnetes Taxon (Familie, Klasse etc.) definierenden Merkmale können einzelnen Mitgliedern verloren gegangen sein.


Eine auffallende Reduktion von Organen und physiologischen Funktionen findet man etwa bei xerophytischen und parasitischen Pflanzen. (Andererseits stellt die Umstellung von der ursprünglich autotrophen auf eine heterotrophe Ernährungsweise eine erstaunliche physiologische Leistung dar.)


Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich das Problem, dass die "Wertigkeit" oder Relevanz von Merkmalen nicht für alle Verwandtschaftsgruppen gleich ist, ja nicht einmal für alle Arten einer Pflanzengruppe. Denn im Verlauf einer Entwicklungsgeschichte in geologischen Zeiträumen können sich die Baupläne der verschiedenen Taxa und somit die taxonomischen Kriterien grundlegend ändern. In diesem Zusammenhang ist besonders die Erhebung unbedeutender Gensequenzen zu einer übergeordneten Instanz phylogenetischer Taxonomie zu kritisieren.


Organische Rudimente oder abnorme organische Abweichungen (Atavismen) lassen auf frühere Entwicklungsvorgänge schließen, während es sich bei scheinbar gleichen Progressionserscheinungen ganz anderer Taxa auch um reine Analogien der Entwicklung (Konvergenzen) handeln kann. Ähnliche Atavismen und Konvergenzen gibt es auch in den Genen, wo sie aber möglicherweise schwerer zu erkennen sind.


Bei genauer Betrachtung pflanzlicher Organe kann man sich Progressionen selber erklären; der "Syllabus der Pflanzenfamilien" (Melchior 1954 + 1964) gibt hierzu eine allgemeine Anleitung.

Dem bloßen Auge schwer zugängliche anatomische Merkmale wie die des Holzes bestärkten das Paradigma einer entwicklungsgeschichtlichen Weiterentwicklung der Blütenpflanzen; solche anatomischen Merkmale wie auch der Bau des Pollens und der Samenschale werden beispielsweise von Huber 1991 behandelt.


Stevens 2012 insistiert darauf, dass die Annahme von Gesetzmäßigkeiten der Evolution unkorrekt sei. Leiterförmige Endplatten der Tracheen-Zellen seien ebensowenig ein Merkmal ursprünglicherer Evolutionsstufen wie getrennte Blumen- oder Fruchtblätter. Damit erhebt er aber die Ausnahmen zur Regel; außerdem versäumt er es, mögliche Fehlinterpretationen des Genoms anzusprechen.



Verwandtschaft - Beziehungen zwischen den Taxa

"... immer handelt es sich ... um die Frage, ob zwei Organismen untereinander relativ enger verwandt sind als mit anderen Gruppen" (Zimmermann 1969)

Dabei spielt es eigentlich keine große Rolle, ob es sich um "Blutsverwandtschaft" handelt, um "geistige Verwandtschaft" oder um Ähnlichkeit.


Die Pflanzensystematik hat zunehmend die Frage bewegt, ob bei den bisherigen Systemen das Ziel der Darstellung eines natürlichen Systems verwandtschaftlicher Beziehungen erreicht worden sei oder nur das Ziel der Identifizierbarkeit. Dabei ist diese Frage eigentlich ein Problem der Evolutionsforschung.

Im Berufsleben oder vor einer zu bestimmenden Pflanzenformation wird ein Praktiker bei Auseinandersetzung mit den meisten botanischen Systemen eher die berechtigte Frage stellen müssen, ob eine Pflanzensystematik, die über die physiognomische Erkennbarkeit von taxonomischen Gruppen hinausgeht, überhaupt wünschenswert ist.

Andererseits wird man allzu oft mit einer jeder Erklärung entblößten Nomenklatur abgespeist.


Von der APG werden angebliche phylogenetische Verwandtschaften festgestellt, die der äußeren Anschauung völlig widersprechen, - und das unter dem Hinweis, ihre Umgruppierungen seien noch sehr moderat ausgefallen.

Wegen der Möglichkeit umweltbedingter konvergenter Entwicklungen sollten verborgene Eigenschaften Hinweise auf eine Verwandtschaft liefern, vor allem die Sequenzanalyse von Zellproteinen und Genen; ich nehme aber an, dass auf cytologischer Ebene konvergente Erscheinungen ebenso häufig sind wie auf der sichtbaren Ebene.



Abstammung

Es hat eine gegenseitige Absicherung von phylogenetischen Theorien und fossilen Nachweisen gegeben. Daraus leitete Walter Zimmermann die zentrale Theorie der Phylogenese ab, die heutige Gestalt der Pflanzenwelt sei von untergegangenen Typen abzuleiten.
Zimmermann 1969 will eine "realhistorische Abstammungslehre" vermitteln - er betreibt also botanische Ahnenforschung, während die naturwissenschaftliche Herangehensweise sich stärker mit der funktionellen Verwandtschaft der Pflanzen befasst. Hierbei sind die enormen Leistungen der Phylogenie schon im 19. und frühen 20. Jh. hervorzuheben.

Charles Darwin's "On the Origin of Species" (1859) begründete den Gedanken einer Entwicklungsdynamik, die aus gemeinsamen Vorfahren mehrere Stammlinien hervorbringen kann.
Doch ist die Stammesgeschichte oder Phylogenese nicht gleichzusetzen mit Verwandtschaft, wenn ein und dieselbe Stammlinie völlig unähnliche Taxa hervorbringt. In diesem Falle wäre möglicherweise die Abgrenzung physiognomischer und funktioneller Gruppen angebracht.

Es gibt zwar lebende Fossilien wie den Ginkgo-Baum, die sich seit 100 oder 200 Mio. Jahren wenig verändert haben, doch gerade unter den Angiospermen gehören die wenigsten Taxa zu ihnen. Ich finde, der menschliche Betrachter ist berechtigt, sich über die verwandtschaftlichen Beziehungen von Angiospermen mit zig Mio. Jahren getrennter Entwicklung keine Gedanken zu machen; sie sollten nicht in künstliche Gruppierungen gezwängt werden, wenn die Ähnlichkeit nicht offensichtlich ist.


In dem Wikipedia-Artikel "Kladistik" (Stand: November 2012) heißt es: "Phylogenetische Systematik ist eine historische Wissenschaft, da man die Phylogenese der Organismen nicht beobachten, sondern nur rekonstruieren kann. Daher werden alle Verwandtschaftshypothesen immer nicht experimentell zu bestätigende Hypothesen bleiben."

Damit ist ein weiterer Hinweis formuliert, dass es sich bei der Phylogenie teilweise um nutzloses Wissen handelt - die systematische Pflanzenkunde sollte sich auf die reelle Verwandtschaft ihrer Untersuchungsobjekte beschränken.



Genomvergleich

Die Verwandtschaft von Arten, Gattungen etc. wurde in der Geschichte der Botanik auf Grund der Ähnlichkeit einer möglichst großen Zahl von Merkmalen festgestellt. Derartig enge verwandtschaftliche Beziehungen lassen sich erfahrungsgemäß bei größeren taxonomischen Einheiten nicht mehr erkennen; umso wichtiger ist hier die Bewertung der sie definierenden Merkmale. Wenn genetische Merkmale zur Definition von Taxa verwendet werden, dann sollten diese zumindest erläutert werden - ihnen haftet nicht a priori eine größere Relevanz an als der äußeren Gestalt.

Wegen der Komplexität auch des pflanzlichen Genoms dürfte sich ein natürliches Klassifikationssystem, das gleichzeitig die Form eines hierarchischen Stammbaums annimmt, auch durch die sog. "Molekulare Phylogenetik" nicht wirklich erreichen lassen. - Im Grunde beruht dieser Begriff auf einer Irreführung: es wird ein Zusammenhang zwischen den Genomen der verschiedenen Arten und ihrer Phylogenetik suggeriert, dabei ist die DNA-Sequenzanalyse eine rein statistische Methode und erzeugt damit ein ebenso künstliches System wie der Vergleich äußerer Pflanzenorgane.

Erst das totale Genom, das technisch gar nicht untersucht werden kann, schlägt sich in den Erscheinungsformen eines Organismus nieder; der Vergleich einzelner Gensequenzen könnte daher mit größeren Fehlern behaftet sein als der Vergleich realer Organe.

Außerdem sollte man nicht vergessen, dass das Genom eines Lebewesens nicht in einem sterilen Raum existiert, sondern abhängig ist von den Lebensfunktionen des Lebewesens, das es hervorbringt.


Bei der Aufstellung eines Systems phylogenetischer Verwandtschaft wurde immer einzelnen Merkmalen eine Priorität zugewiesen; in Engler's Systemen waren es vor allem Blütenmerkmale, die die größte taxonomische Bedeutung erhielten. In der neuesten molekular-analytischen Kladistik sind es offenbar bestimmte Gensequenzen, denen besondere Relevanz zugesprochen wird.

Doch hat das Ergebnis, selbst wenn mehrere solcher Merkmalssysteme kombiniert werden, möglicherweise keinen reellen Wert - am allerwenigsten einen Erkennungswert. - Auch wenn man glaubt, die verwandtschaftlichen Beziehungen großer Pflanzengruppen seien besser mit genanalytischen Methoden zu erfassen, bleiben die äußerlichen Organe für taxonomische Zwecke besser geeignet.





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Zur Systematik der Blütenpflanzen


1. Systematik als Taxonomie und Phylogenie

1.1. Neue Methoden

1.2. Parataxonomie

1.3. Ordnungs-
kategorien der Pflanzensystematik

1.4. Kladistik



2. Die Klassifikation der Blütenpflanzen (Angiospermae)

2.1. Die klassische Systematik

2.2. Die "Angiosperm Phylogeny Group"



3. Merkmals-Klassifikation

3.1. Äußere Merkmale

3.2. Klassische Merkmals-Systeme

3.3. Chemosystematik

3.4. Ökologische Verhältnisse



4. Evolution, Phylogenese, Verwandtschaft

4.1. Progressionen

4.2. Verwandtschaft - Beziehungen zwischen den Taxa



5. Fragwürdiger Output der APG-Kladistik

5.1. Beispiele



6. Quellenangaben





Output der APG-Kladistik





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